von Ben Gattermann
Aus London, Freiburg, Augsburg, dem Emsland und vielen weiteren Regionen versammelten sich am Wochenende vom 18.-20. November die Teilnehmenden unseres Seminars „Die Erben der Erinnerung: der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der zweiten und dritten Generation“ in der Historisch-Ökologischen Bildungsstätte in Papenburg. Die Beiträge nahmen dabei nicht nur den Umgang von Angehörigen von NS-Verfolgten mit ihrer Familiengeschichte in den Blick, sondern fragten auch – durchaus kontrovers – nach einer breiteren Verankerung von Erinnerung in der Gesellschaft. Wie und wozu übernehmen welche Akteure historisch und aktuell Geschichten von Verfolgung und Verfolgten? Unter den Teilnehmer:innen waren auch einige Hinterbliebene von ehemaligen Moorsoldaten, die in den Diskussionen teilweise ihre eigenen Erfahrungen und Reflexionen in dieser Hinsicht einbrachten. Neben vielen selbst in der Erinnerungsarbeit und in Gedenkstätten Aktiven nahmen auch Studierende und interessierte Menschen aus der Öffentlichkeit an dem Seminar teil.
Den Veranstaltungsauftakt am Freitagabend machte Dr. Katharina Stengel vom Fritz Bauer Institut. Sie berichtete aus ihrem noch jungen Forschungsprojekt zu „Überlebenden als unbequeme Träger der Erinnerung“, in dem sie sich mit der Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) von den Gründungen bis in die 1960er Jahre beschäftigt. Dies verband sie mit Einblicken in die Arbeit des Internationalen Auschwitz Komitee zu dieser Zeit. Sie legte dar, dass sich die Überlebenden in der Nachkriegszeit neben der Unterstützung von NS-Verfolgten auch der Aufarbeitung Vorgänge in den Konzentrationslagern annahmen. Eine etwaige Aufarbeitung durch die Geschichtswissenschaft setzte erst in den 1960er Jahren ein. In den beiden deutschen Staaten trafen die selbstbestimmten Bestrebungen der Überlebenden auf wenig Zuspruch. Bereits wenige Jahre nach Ende des Nationalsozialismus stellten die Überlebenden fest, dass ihre Belange sukzessive aus der Gesellschaft gedrängt wurden, was gerade im Westen mit dem aufkommenden Antikommunismus zusammenhing. Die Folge waren etwa Verbotsverfahren gegen die VVN, die jedoch nicht in allen Fällen oder dauerhaft erfolgreich waren. In der DDR wurde die VVN 1953 verboten und von staatlicher Seite durch das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer ersetzt. Die VVN und das Internationale Auschwitz Komitee stellten eine wichtige Interessensvertretung der Überlebenden dar.
Am Samstag startete Anja Hasler von der Universität zu Köln mir ihrem Beitrag den Seminartag. Sie stellte ihr Promotionsprojekt „Stolen Memory und die Erinnerung an NS-Verfolgung in spanischen Familien“ vor. Sie erforscht in mehreren Interviews die Erinnerungen von Familien in Spanien, die über die Arolsen Archives sog. „Effekten“ von Angehörigen NS-Verfolgten zurückerhalten haben. Sie legte dar, wie hoch der Wert von persönlichen Gegenständen wie Uhren oder Ringen sei, und dass sie einen Teil der Identität der Insassen ausmachten. Einen Teil der Identität, der ihnen bei der Aufnahme ins Gefängnis genommen wurde. In ihrer qualitativen Studie möchte Hasler herausarbeiten, wie die nationalsozialistische Verfolgung und diese Erinnerungsstücke die Familien prägten. Die Erinnerungsstücke stellen ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar und können so Anlass sein, um sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Die Rückgabe an die Familien erkennt sie als einen Teil der Familiengeschichte an.
Im Anschluss stellten Dr. Kristina Vagt und Karin Heddinga ihre Arbeit am Projekt denk.mal Hannoverscher Bahnhof vor. In der Hamburger HafenCity konzipieren sie in der Nähe des schon bestehenden Denkmals eine neue Ausstellung, die an von hier von den Nationalsozialisten deportierte Menschen erinnern soll. Vom Hannoverschen Bahnhof wurden Juden:Jüdinnen, Sinti:zze und Rom:nja nach Osten in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Auch Soldaten des sogenannten Bewährungsbataillon 999 wurden von hier in den Krieg geschickt. Dabei gilt auch dem Umfeld des Bahnhofs Aufmerksamkeit: Wer bekam die Deportationen mit, wer war daran beteiligt, wer profitierte davon? Im Kontext der Arbeit an der Ausstellung entstanden mehrere Interviews, unter anderem mit Angehörigen von sog. „999ern“, in die einige Einblicke gewährt wurden. Die hiermit aufgeworfenen Fragen nach transgenerationaler Überlieferung von Erinnerungen sollen ebenfalls in die Ausstellung einfließen. In mehrstündigen biographischen Interviews erzählen Angehörige von deportierten Menschen ihre Erinnerung an diese und wie mit den Geschichten in der Familie und im sozialen Umfeld umgegangen wurde. Die Referentinnen zeigten so auch auf, wie komplex und kleinteilig die Biographien durch die Verfolgung der Nationalsozialisten waren.
Den dritte Programmpunkt am Samstag übernahm die Journalistin und Autorin Nora Hespers. Über die Geschichte ihres Großvaters, der im Widerstand gegen die Nazis war und deswegen von diesen 1943 ermordet wurde, hat sie ein Buch geschrieben und einen Podcast gemacht. Hespers sprach über das Social-Media Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ des Südwestdeutschen und Bayrischen Rundfunks, das eine junge Zielgruppe mit Beiträgen über Sophie Scholl erreichen will. Dazu wird ein Instagram-Kanal betrieben, der das Leben einer fiktiven Sophie Scholl zeigt. Hespers zeigte auf, dass hierbei zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht klar genug unterschieden werde. So sah man zum Beispiel eine zu Jazz tanzende Sophie Scholl, obwohl aus ihren Tagebüchern hervor geht, dass ihr diese Art der Musik missfiel. Außerdem bemängelte Hespers, dass bei den historischen Ereignissen ein historischer Kontext fehle. Für andere dort zu sehenden Beiträge fehlten schlichtweg die Belege. Die von Hespers und auch weiteren Journalistinnen und Historikerinnen, beispielsweise über den instagram-Kanal „nichtsophiescholl“ geäußerte Kritik wurde von den Produzent:innen nicht beachtet. Hespers warf so auch die Frage auf, wer wessen Erinnerungen an Widerstand und Verfolgung zu welchen Zwecken und in welchem Stil erzählte. Abschließend wies Hespers beispielhaft auf den Instagram Kanal „frauenvondamals“ hin, der zu einer Diversifizierung der Erinnerungskultur beitragen könne, indem hier auch weniger bekannte, vergessene oder verdrängte Geschichten, u.a. von Widerstandskämpfer:innen, erzählt werden.
Zum Abschluss des zweiten Seminartags stellte Theresa Michels den Verein „Zweitzeugen e.V.“ vor. Dieser ist eine Initiative junger Menschen, die die Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust weitertragen wollen. Auf Grundlage vom Verein geführter Interviews können sich Schüler*innen im Kontext von Seminaren und Workshops mit Biographien der Holocaust-Überlebenden auseinandersetzen. Dabei gehen sie auch auf die Geschichten der Überlebenden nach 1945 ein, um die oft schwierigen Wege zu Entschädigung und Aufarbeitung sichtbar zu machen. Der Verein setzt dabei auf längere Formate wie Tagesseminare und mehrtägige Workshops, um tiefer in das Thema einsteigen zu können. Gleichzeitig soll in diesen auch die Frage nach Gegenwartsbezügen diskutiert werden. Außerdem führt der Verein Projekte in Zusammenarbeit mit Sportvereinen durch, in denen Antisemitismus im Fußball aufgearbeitet werden soll.
Am Sonntag schloss Appolinaire Akpene Apetor-Koffi mit seinem Vortrag das Seminar. Koffi präsentierte das Projekt „Multi-prRSPEKTif“, das er am Denkort Bunker Valentin mit einer Kollegin über mehrere Jahre durchgeführt hat. Ziel des Projekts ist es Gedenkorte multiperspektiv zu verstehen. Die Arbeit basiert auf entsprechenden Grundsätzen: Sensibilisierung, Dokumentieren, Empowern und aktives Zuhören. Beteiligt sind junge Menschen aus Bremen, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Erinnerung daran auseinandersetzen. Dabei verbindet die „pädagogische Intervention“ historische und politische Bildung mit eigenen Erfahrungen der jungen Menschen von Vertreibung, Flucht, Gewalt und Diskriminierung. Im Rahmen des Projekts sind unter anderem diverse Interviews entstanden, in die Koffi während des Vortrags Einblick gab. Durch die differenzierte und reflektierte Frage nach Verbindungen zu den Themen, die Orte wie der Bunker Valentin aufwerfen, können diese für mehr Menschen zugänglich gemacht werden und neue Themen in den Blick rücken: Aus dem Projekt ist so auch eine Recherchearbeit und Publikation zu Nordafrikanischen Zwangsarbeitern am Bunker Valentin hervorgegangen, in der Apetor-Koffi einzelne Biographien von diesen Menschen dokumentiert und darstellt.
Wir blicken zurück auf ein spannendes Wochenende mit vielen interessanten Themen, lebhaften Diskussionen und zahlreichen Anregungen zum Weiterdenken. Ein besonderer Dank gilt den Referentinnen, den Organisator*innen sowie der HÖB für die schönen Rahmenbedingungen. Wir freuen uns auf bereits auf das nächste Mal!