2025 jährte sich die Befreiung der Überlebenden des Nationalsozialismus zum 80. Mal – ein bedeutendes Datum des Gedenkens und der Erinnerung. Anlässlich dieses Jahrestages hat das DIZ eine digitale Beitragsreihe veröffentlicht, um die persönlichen Geschichten von Verfolgten des NS-Regimes und deren Nachkommen sichtbar zu machen.
Im Mittelpunkt der Reihe standen die Erinnerungs- und Erlebnisberichte ehemaliger Häftlinge sowie die Stimmen der Angehörigen von Verfolgten. Ziel war es, die individuellen Perspektiven und Erfahrungen von Menschen zu teilen, deren Familiengeschichte durch Verfolgung, Flucht, Haft und Befreiung geprägt wurde.
Angehörige haben ihre Gedanken und Erfahrungen in kurzen Statements geteilt und beantworteten dabei auch die Frage: „Was bedeutet die Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 für Dich?“
Die Beiträge gaben persönliche Einblicke, regten zur Reflexion über gesellschaftliche Verantwortung an und verdeutlichten, wie wichtig Erinnerung und Aufklärung auch heute sind. Mit der Beitragsreihe möchten wir ein Zeichen setzen: Für das Weitertragen und kritische Hinterfragen der Geschichte sowie für die Bedeutung historischer Verantwortung.
Friedrich Bergsträsser (07.11.1921 – 24.04.1995) wurde in Worms geboren. Nach dem Abschluss der Schule begann er eine kaufmännische Lehre. Von März bis Weihnachten 1937 war er zum Landdienst dienstverpflichtet. Danach setzte er seine Lehre fort. 1940 wurde er zum Arbeitsdienst in einer Munitionsfabrik dienstverpflichtet, nach deren Zerstörung folgte ein dreimonatiger Einsatz in Montabaur. Im Juni 1941 erfolgte die Einberufung zur Wehrmacht in eine Kradmelder-Einheit in Bremen. Im Juni 1942 desertierte er und fand Unterschlupf bei einem Bauern in der Nähe von Nordhorn. Er wollte in die Schweiz emigrieren. In der Nähe von Bonn wurde er von der Feldgendarmerie verhaftet und zurück nach Rheine gebracht. Von einem Kriegsgericht wurde Bergsträsser im September 1942 in einem zweiten Verfahren wegen Fahnenflucht zu 3 Jahren und 9 Monaten Zuchthaus verurteilt, verbunden mit der Aberkennung der bürgerlichen Rechte und Wehrunwürdigkeit. Die Strafe trat erst nach dem Krieg in Kraft. Bis dahin wurde er in Schutzhaft genommen und zunächst nach Lingen, am 12. Januar 1943 in das Strafgefangengenlager VII Esterwegen überführt, später in das Lager III Brual-Rhede verlegt. Im April 1945 kam Bergsträsser zurück nach Esterwegen. Kurz darauf erfolgten die Räumung des Lagers und die Verlegung in das Lager II Aschendorfermoor. Hier erlebte er die Erschießungen von Fahnenflüchtigen durch den falschen „Hauptmann“ Herold. Am 19. April 1945 wurde das Lager II Aschendorfermoor durch alliierte Luftangriffe zerstört. Bergsträsser nutzte das Chaos und flüchtete nach Papenburg, wurde dort allerdings aufgegriffen und ins Moor zu den anderen Gefangenen gebracht. Hier erlebte er am 22. April die Ankunft polnischer und kanadischer Soldaten. Einige Tage später organisierte er sich in Lingen einen Passierschein der britischen Militärverwaltung zur Rückkehr in seine Heimatstadt Worms. Seit den 50er Jahren lebte Bergsträsser in Leipzig und arbeitete als Rundfunk- und Fernsehmechaniker. Ende der 80er Jahre entstand der Kontakt zum DIZ Emslandlager in Papenburg. Foto: Archiv AK DIZ Emslandlager e. V., Papenburg.
Roman Piaskowski (17.05.1923 – 09.05.2003) wurde in Koło (Westpolen) geboren. Ab 1939 gehörte seine Heimatstadt zum „Reichsgau Wartheland“. Er war Küster in der katholischen Kirche in Kalisch. Als Zwanzigjähriger wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Er diente 1943 als Grenadier in Valnesfjord, Nordnorwegen. Anfang 1944 wurde Piaskowski wegen seiner katholischen Weltanschauung verhaftet. Er hatte Gebetsstunden mit seinen katholischen Kameraden abgehalten. Ein Feldkriegsgericht verurteilte ihn wegen „Zersetzung der Wehrmacht“ zu 10 Jahren Zuchthaus. Über die Festung Akershus in Oslo erfolgte die Verlegung in die Vollzugsanstalt Rendsburg. Hier war er vom 20.5. bis 15.06.1944 inhaftiert. Am 15.06.1944 verlegte man ihn in die Strafanstalt Lingen und am 22.06.1944 in das Strafgefangenenlager I Börgermoor. Am 10.04.1945 wurde das Lager geräumt und die Häftlinge in Richtung Leer in Marsch gesetzt. In Collinghorst kam dann am 11.04.1945 der Befehl, nach Aschendorfermoor zu marschieren, wo sie am 12.04.1945 ankamen. Auf dem Marsch wagten Gefangene die Flucht und versuchten sich im Moor, in Scheunen oder auf Höfen bei den Bauern zu verstecken. In der Folge wurden die meisten von Suchtrupps aus Mitgliedern der Wachmannschaften von Justiz und SA wieder gefangen genommen und im völlig überfüllten Lager II Aschendorfermoor in gesonderten Baracken untergebracht. Eine Verurteilung per Standgericht erfolgte durch den selbsternannten „Hauptmann“ Herold, der ab dem 12.04.1945 im Lager wütete. Piaskowski erlebte die Erschießung der Verurteilten durch Herold. Seinen Erinnerungen zufolge war auch er vernommen worden. Sein Name hatte auf der Liste gestanden. Nach der Bombardierung des Lagers wurden die restlichen Gefangenen im Moor gefangen gehalten. Von dort konnte Piaskowski am 18.04.1945 fliehen. Später verbrachte er drei Tage bei Lagerpfarrer Lüning in Papenburg. Nach der Registrierung durch die Alliierten kam er nach Belgien in Kriegsgefangenschaft und von dort 1946 zurück nach Polen. Er wurde Priester. In den 50er Jahren verließ Piaskowski Polen und lebte bis zu seinem Tod im saarländischen Bous. Foto: Archiv AK DIZ Emslandlager e. V., Papenburg
Ferruccio Francesco Frisone (19.02.1909 – 26.12.1973) wurde in Malnate (Lombardei, Italien) geboren. Schon früh entdeckte er seine Freude am Zeichnen und besuchte während der Schulzeit eine Abendschule für Technisches Zeichnen. Er begann ein Kunststudium in Mailand und wurde Lehrling für grafische Kunst. Nach der Ableistung seines Militärdienstes arbeitete er bei einer Verlagsgesellschaft. 1935 heiratete Frisone. Ein Jahr später wurde sein erster Sohn Alberto geboren. 1942 wurde er zum Militärdienst eingezogen und in Albanien eingesetzt, wo er im September 1943 nach der Kapitulation Italiens in deutsche Gefangenschaft kam und bis Ende 1943 in Belgrad interniert war. Nach der Weigerung, in die deutsche Wehrmacht einzutreten, wurde er bis Mitte Januar über Wien nach Meppen in das Lager Versen transportiert. Neben den italienischen Militärinternierten waren hier französische und sowjetische Kriegsgefangene eingesperrt. Frisone hielt die Zustände im Lager in seinem Tagebuch fest. Auch fertigte er Zeichnungen vom Lager und Porträts seiner Mitgefangenen an. Im März 1944 erfolgte seine Verlegung in das Lager Fullen. Ab Mai 1944 erhielt er den Auftrag, Kreuze für die italienischen Gräber mit den Namen der Verstorbenen anzufertigen. Heimlich führte er eine Namensliste. Insgesamt waren es 751 Tote. Die Liste brachte er mit zurück nach Italien. Am 7. April 1945 wurde das Lager Fullen durch kanadische Truppen befreit. Allerdings mussten die Italiener zunächst im Lager verbleiben. Erst am 20. August 1945 konnte Frisone das Lager verlassen und nach Mailand zurückkehren. Frisone nahm seine Arbeit in der Verlagsgesellschaft wieder auf. Er bekam einen weiteren Sohn. Sein erster Sohn verstarb 1950. Frisone arbeitete als Künstler und war an vielen Ausstellungen beteiligt. Auch seine Zeichnungen aus dem Lager wurden in vielen Städten gezeigt. Die Stadt Mailand verlieh ihm kurz vor seinem Tod in Anerkennung seiner Kunst eine hohe Auszeichnung. Ferruccio Francesco Frisone verstarb am 26.12.1973 in Mailand. Foto: Privatbesitz Giovanni R. Frisone, Milano; Archiv AK DIZ Emslandlager e.V., Papenburg
Hilde Vivijs is the daughter of Louis Vivijs. He was a Belgian resistance fighter who joined the resistance movement “De Zwarte Hand”. After his arrest in 1941, he was imprisoned in Breendonk, Sint-Gillis, and later in several German prisons and concentration camps, where he endured the horrific conditions and witnessed the liberation in 1945.
What does the liberation from National Socialism in 1945 mean to Hilde Vivijs? „For my father it meant: – The end of his years of captivity in Nazi prisons, concentration and extermination camps, the reunion with his family who no longer recognized him after 4 years of captivity. – The regaining of his freedom, but the beginning of a long rehabilitation at home and abroad. – The difficult reintegration into post-war society. The inability to find a job because of his health problems incurred during his imprisonment. But he never gave up courage and hope. A bright spot in his life was his meeting with my mother 7 years after his liberation in 1952 and them founding a family together. Together with his wife and the few survivors, he worked all his life for remembrance and justice in this world. His many positive messages continue to give us hope to believe in the goodness of humanity. It marked the end of nearly six years of war that had claimed the lives of millions, destroyed homes, families and cities and brought immense suffering and hardship to the people of entire nations. For those who had lost loved ones in the conflict, it was a time to mourn. For us, the current generation, it means: – already 80 years of living in peace and freedom, thanks to the many sacrifices made. – but also processing the transmitted traumas of our ancestors. It meant the beginning of our years of democracy and the realization of the dangers that far-right thinking can cause. It is a lesson that has cost us dearly and from which we must learn. We must continue to stand up for human rights and democratic values every day. Liberation gave rise to our responsibility – the responsibility of ‚Never Again‘! Victory Day in Europe: it is not only an occasion to Celebrate, but also a moment of Reflection.“ Fotos: Privatbesitz Hilde Vivijs
Christa Bröcher ist die Enkelin von Anton (Toni) Melchers, der unter anderem im KZ Börgermoor inhaftiert war. Welche Auswirkungen hatte die Befreiung vom Nationalsozialismus auf sie und ihre Familie? „Zuerst, dass alle Familienmitglieder trotz erlittener Verfolgung, Gefängnis- und KZ-Haft das Ende des Nazi-Terrors als Überlebende feiern konnten. Endlich musste meine Mutter, eine in Düsseldorf mit Gefängnisaufenthalt bestrafte aktive Widerstandskämpferin, keine Angst mehr vor einer weiteren Verhaftung haben. Wir konnten aus meinem Geburtsort Braunau am Inn, wohin meine Mutter, Tanten und Cousins 1943 evakuiert worden waren, in das zerbombte Düsseldorf zurückkehren. Auch mein Großvater Toni Melchers schaffte es nach der Befreiung, nach Düsseldorf zurückzukehren. Vorher durchlitt er als politischer Häftling das Zuchthaus Brauweiler, das KZ-Börgermoor, das KZ-Sachsenhausen und den Todesmarsch Richtung Ostsee. Ich durfte ihn noch als freundlichen, liebenswürdigen Opa erleben, dem Freunde und Genossen großen Respekt zollten. Am 29.6.1947 verstarb er an den Folgen der erlittenen Haft. […] Nach ihm wurde ein Erholungsheim in Wülfrath „Toni-Melchers-Heim“ benannt, in dem langjährige politische Gefangene einen Erholungsurlaub von vier Wochen erhielten. Dieses familiäre Erbe habe ich aus Überzeugung angenommen. Um mitzuhelfen, vor allem kommende Generationen gegen faschistisches Gedankengut zu „immunisieren“ lag mein Schwerpunkt immer in der Kinder- und Jugendarbeit, als Lehrerin (mit Berufsverbotsverfahren), viele Jahre bei den Naturfreunden, seit 2012 bei den „Kindern des Widerstandes-Antifaschismus als Aufgabe“. Regelmäßig besuchen wir – alle Nachkommen von Verfolgten des Naziregimes -Schulen verschiedener Schulformen, Jugend- und Erwachsenenorganisationen und halten Vorträge und Reden bei Aktionen und Veranstaltungen in ganz NRW. Dabei reicht es uns nicht, nur rückblickend einer schrecklichen Zeit zu gedenken, denn die Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern im Kampf gegen die Nazis dürfen nicht verloren gehen für unsere antifaschistische Tätigkeit HEUTE!“ Fotos: Privatbesitz Christa Bröcher
Manfred Weiß ist der Sohn von August Weiß. Von 1941 bis 1942 war August nach mehreren Haftstationen wegen ‚Fahnenflucht‘ im Lager II Aschendorfermoor inhaftiert. Bereits als Kind hatte er eine ausgeprägte antimilitaristische und pazifistische Haltung, der er auch nach dem Krieg treu blieb. Er sprach vor Schulklassen über seine Erfahrungen und setzte sich unermüdlich für diese Überzeugungen ein. Nach langem Ringen war August Weiß der erste Deserteur in Österreich, der eine Entschädigung aus dem NS-Opferfonds erhielt. Die offizielle Rehabilitierung durch das am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene ‚Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz‘ erlebte er jedoch nicht mehr. Wie aber erinnert sich Manfred Weiß an das Leben und Wirken seines Vaters nach dem Ende des Nationalsozialismus? „[…] Dadurch, dass speziell mein Vater – meine Mutter weniger – aber mein Vater, der August hat das sehr intensiv erlebt und mitgemacht. Diese extreme Unfreiheit. […] Und vor allem, der ist mit 19 ins KZ. Der 20. Geburtstag hat er im KZ gefeiert. Ich glaube, ein paar Kartoffelschalen hat er extra bekommen, anlässlich zu seinem Geburtstag […] und dass das ihn prägt steht wohl außer Frage. […] Es geht nicht um Gleichberechtigung, weil bei der Gleichberechtigung … gleiche Rechte, gleiche Pflichten aber auch. Wenn du schon Freiheit willst, Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung zu übernehmen. […] Nur was ich von meinen Eltern, August und Elsa, mitbekommen habe, ist, dass sie mich nicht nur als gleichberechtigt, sondern als gleichwertig und in meinen Augen geht es im ganzen Leben nur um eins: um Gleichwertigkeit. […] Er ist dann in Schulklassen gegangen und hat Vorträge gehalten. Hat einfach seine Geschichte erzählt. […] Das hat er öfters gemacht. Zu Schulklassen gegangen auf eine Einladung und hat erzählt, was er in seinem Leben erlebt hat, er wollte das einfach weitergeben, das war ein Anliegen, weitergeben, dass sowas nicht mehr passiert.“ Text: Auszüge aus einem Interview mit Manfred Weiß, Stadt Dornbirn – Stadtmuseum, 2024. Mit freundlicher Genehmigung von Manfred Weiß Fotos: Stadt Dornbirn, Stadtmuseum; AK DIZ Emslandlager e.V., Papenburg
An dieser Stelle möchten wir uns noch einmal herzlich bei allen Teilnehmenden bedanken. Insbesondere das Teilen persönlicher Gedanken und Erfahrungen hat diese Beitragsreihe maßgeblich bereichert und ihr Tiefe und Vielfalt verliehen.
At this point, we would like to warmly thank all participants once again. Sharing personal thoughts and experiences has greatly enriched this series of contributions, giving it depth and diversity.
