Inge Krolls Rede im Rahmen der Internationalen Kundgebung

von | Jun 20, 2024

11. Mai 2024
Begräbnisstätte Esterwegen

 

Am 11. Mai 2024 hielt Inge Kroll, Tochter des Moorsoldaten Hans Kroll, im Rahmen der Internationalen Kundgebung eine Ansprache auf der Begräbnisstätte Esterwegen. Noch bis 1985 organisierte das Komitee der Moorsoldaten selbst diese Veranstaltung. Fast 40 Jahre später führt die Deutsch-Niederländische Initiative 8. Mai diese Tradition fort, um ein sichtbares Zeichen gegen Faschismus und Krieg zu setzen und dabei die Erinnerung an die Opfer des Faschismus lebendig zu halten. Auch Inge Krolls Worte sind aktueller denn je:

 

Liebe Angehörige und liebe Freunde der Moorsoldaten! Und liebe Aktive des Dokumentations- und Informations-Zentrums DIZ, liebe Gäste!

Es tut gut, Euch zu sehen, und es tut gut, dass Ihr gekommen seid, um heute gemeinsam all der Menschen zu gedenken, die hier in den Moor-Lagern schwere Arbeit verrichten mussten, die geschunden und geschlagen wurden und die Opfer des Nazi-Terrors wurden!

Doch viele fehlen: Es fehlen die, die gestorben sind, deren Leben durch Hunger, durch Arbeit und Gewalt zerstört und vernichtet wurde.

Und es fehlen deren Kinder, die Kinder, die nicht geboren wurden, die Familien, die nicht gegründet wurden, es fehlen die Enkel, die nicht gezeugt wurden und die Urenkel, die nicht fragen: „Wie konnte das alles geschehen?“ Sie Alle fehlen …!

Und es fehlen auch alle die, die zusammengetrieben, deportiert und vergast wurden, alle, die in den Lagern als Arbeitssklaven ausgebeutet, gepeinigt und erschlagen wurden, die auf die Todesmärsche getrieben und erschossen wurden, die in den Tötungsanstalten ausgehungert oder zu Tode gespritzt wurden. Es fehlen alle die, die ermordet wurden, weil sie nicht zu der Wahn-Idee der „Herrenmenschen“ passten!

Dass ich heute hier stehe, verdanke ich meinem Vater, der die Verfolgung durch die Faschisten überlebt hat. Sein Schicksal haben viele – zu viele – andere auch erlitten:

Er wurde als Kommunist unmittelbar nach dem Reichstagsbrand zum ersten Mal verhaftet, verhört und verprügelt!

Denn die Listen der politischen Gegner lagen bereits fertig in den Schubladen, die Nazis hatten sie schon lange vorher ausgekundschaftet, ihre Aktivitäten protokolliert, und die Listen am Tag, an dem die Reichstagsbrandverordnung veröffentlicht wurde, der Polizei übergeben, um sie verhaften zu lassen.

 

Mein Vater wurde zwar wieder freigelassen, aber dann am 12. Mai 33 – das jährt sich morgen zum 91. Mal – erneut verhaftet, verhört, verprügelt und verurteilt:

Verurteilt wegen VzH, Vorbereitung zum Hochverrat. Seine nächsten Stationen: Gefängnis, Zuchthaus, Lager. Am 14. August 1933 kam er mit 1.000 weiteren Gefangenen hier her ins Emslandlager – mein Vater wurde Moorsoldat!

1979 schrieb er über diese Zeit im Lager: „Hier lernten wir den Faschismus in seiner ganzen rücksichtslosen Grausamkeit und menschenverachtenden Brutalität erst richtig kennen. Wir waren der SS im unendlich großen Moor in der öden Landschaft wehrlos ausgeliefert. Viele haben die Torturen, denen wir dort ausgesetzt waren, nicht überlebt. Vier Monate dauerte meine dortige „Schutzhaft“ mit täglich schwerer Arbeit im nassen Moor, gewürzt mit allerlei Schikanen, Prügel und Demütigungen aller nur denkbaren Art bei sehr karger und schlechter Verpflegung.“

Er kam kurz vor Weihnachten wieder frei und arbeitete weiter im Widerstand: er lieferte mit seinem Fahrrad Flugblätter und kleine Broschüren von Köln aus ins Bergische Land. Im Februar 1935 flüchtete er vor seiner erneuten Verhaftung, vor der ihn ein Freund gewarnt hatte, zuerst nach Holland, dann nach Belgien und schließlich in den Süden Frankreichs. In St. Cyprien war er interniert – wo es nichts gab, außer Sand und Flöhen.

Im August 1940 wurde er nach Bordeaux transportiert, an die SS ausgeliefert und zurück im Viehwaggon nach Deutschland verfrachtet! Dort wurde er erneut verurteilt und nach einer dreijährigen Zuchthaus-Strafe Anfang Februar 1944 zur sogenannten Schutzhaft ins KZ Dachau eingeliefert.

Mein Vater hatte in der Illegalität gelernt, sich angemessen unauffällig zu bewegen, die notwendigen Regeln zu befolgen und auch die unausgesprochenen Regeln zu bedienen. Dass er Niederländisch und Französisch sprechen konnte, verhalf ihm dazu, in Dachau in der Häftlingsregistratur zu arbeiten. Eine leichte und sichere Arbeit im Verhältnis zur Arbeit in den umliegenden Mooren und Steinbrüchen oder in den Außenlagern bei den Rüstungsfirmen.

Er hat das KZ überlebt, und er hat den Todesmarsch von Dachau nach Bad Tölz überlebt: er wurde am 2. Mai 1945 von den Amerikanern befreit und wurde – so hat er es mir erzählt – in Augsburg wieder „aufgepäppelt“.

Dort hat er zurück ins Leben gefunden, ehe er wieder nach Köln zurückkehrte. Der Fragebogen zur Entnazifizierung, den mein Vater ausfüllte, veranlasste die Amerikaner, aufgrund seiner politischen Verfolgung als unbelastet und zuverlässig eingestuft, ihn mit der Wohnraumbeschaffung zu beauftragen. Diese Aufgabe nahm er an – und er nahm sie ernst.

 

Kurz nach dem Krieg gab es viele Menschen, die Wohnraum suchten, die Ausgebombten, die Flüchtlinge, die Entlassenen, die Besiegten und die Befreiten. Alle diese „Displaced Persons“ galten als wohnungsberechtigt. Mein Vater wusste welche Häuser jüdischer Familien „arisiert“, also enteignet worden waren. Genau dort quartierte er Obdach suchende Familien ein; die Frauen mit ihren Kindern waren dankbar, die „arischen Besitzer“ empört.

Die im Herbst 1946 neu gewählte CDU trat an die Stelle der bisherigen Alliierten-Verwaltung, löste sofort meinen Vater ab und versetzte ihn ins Ordnungsamt zur „Marktaufsicht“. Heute nennt man das „Kalt Stellen“!

In den Jahren des Nazi-Regimes hatte er schmerzvoll lernen müssen, mit Unrecht und Gewalt umzugehen und immer wieder Wege gefunden zu überleben und sich dennoch treu zu bleiben. Dabei hatte ihn seine politische Haltung gestärkt, sich für eine neue friedliche solidarische Gesellschaft einzusetzen. So half er dann auch vielen seiner ehemaligen Kameraden, ihren Anspruch auf Entschädigung durchzusetzen.

Ins Ordnungsamt versetzt, unterstützte er die Interessen der Markt-Beschicker, aber vor allem die seiner Kollegen. Er wurde in den Personalrat gewählt und war viele Jahre Personalratsvorsitzender, ehe er 1967 in Rente ging.

Sein Schicksal … und die Folgen seiner Verfolgung waren in unserer Familie allgegenwärtig!

So gab es Hausdurchsuchungen anlässlich des KPD-Verbotes, es gab viele demütigende medizinische Untersuchungen, die durch das Entschädigungsverfahren notwendig wurden, häufige Krankenhausaufenthalte wegen seiner zunehmenden Schmerzattacken, den Folgen seiner Haft, und immer wieder sorgenvolle bedrückende Gespräche, die das erlittene Unrecht und die erlebte Qual oft nur andeuteten. Zwischen allem ahnten wir seine Angst „elendiglich zu krepieren“!

„Wir haben zum Glück das KZ nicht persönlich erlebt, trotzdem ist es ein Teil unseres Lebens…“ So hat es der Filmemacher Josef Pröll ausgedrückt und ich erlebe es ebenso.

Wie konnte das alles geschehen?

Wie konnte es soweit kommen?

Wie wurden die Täter zu Tätern?

Wie wurden die Opfer zu Opfern?

Wie konnten Mitläufer mitlaufen?

Wie wurden die Schweigsamen schweigsam?

Und wie die Ahnungslosen ahnungslos?

Was müssen wir lernen, was müssen wir tun, um einen neuen Faschismus zu verhindern?

Wie also wurden Täter zu Tätern und Opfer zu Opfern?

 

Gerade mal fünf Tage nach der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler wurde per Notverordnung die parlamentarische Kontrolle ausgeschaltet, und nach dem Reichstagsbrand drei Wochen später wurden die Grundrechte außer Kraft gesetzt: So wurde der politische Widerstand kriminalisiert und die eigene Gewalttätigkeit legalisiert. Gezielt wurden ab dem 28. Februar, also knapp einen Monat nach dem 30. Januar, die politischen Gegner verhaftet, verhört, verprügelt – zur Machtdemonstration und Einschüchterung!

Eine Woche später, nach der Wahl am 5. März wurden die Sitze für die KPD für ungültig erklärt: so verschaffte sich die NSdAP die absolute Mehrheit der Sitze. Wieder drei Wochen später konnte mit dem Ermächtigungsgesetz das Parlament ganz systematisch und schein-legal übergangen werden.

Am 22. März 1933 waren die ersten Häftlinge in das neu eingerichtete KZ Dachau eingeliefert worden. Dann kam Oranienburg und im Juni folgte das Lager Börgermoor, und auch hier – wie in Dachau – waren es Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialdemokraten, die als Erste interniert wurden. Die Nazis brauchten die Lager dringend, denn überall waren die Gefängnisse mit politischen Häftlingen überfüllt!

Und sie definierten „Schutzhaft“ neu: „Nicht nur schütze man das Volk vor Volksschädlingen, vorsorglich würden auch die Häftlinge vor dem gerechten Volkszorn geschützt …!“

Sie wissen dies alles! Sie wären sonst nicht hier!

Weshalb ich das alles dennoch aufzeige: mich erschüttert die Skrupellosigkeit, wie in nur zwei Monaten die demokratischen Errungenschaften der Weimarer Republik hinwegfegt wurden!

Und es sind diese beunruhigenden Parallelen zu Heute! Heute werden wieder kommunale Politiker angepöbelt, beschimpft, angegriffen und krankenhausreif geschlagen! Heute, wo wieder rechtsextreme Parteien und Organisationen ungeniert ihre bösartigen Pläne schmieden, um zugewanderte Menschen aus der Gemeinschaft auszugrenzen!

Wo seriöse Medien als „Lügenpresse“ diffamiert werden und bewusst Falschmeldungen lanciert, gezielt Misstrauen und Ablehnung gegen zivilrechtliche Organe gesät werden. Wo sie Kinder mit Lernschwierigkeiten wieder separieren wollen! Wo sie Kunst und Kultur wieder als Un-Deutsch zensieren wollen! Heute, wo zum wiederholten Male die Täter zu Opfern und zu Helden stilisiert werden!

Denn nichts Anderes bedeutet eine „180-Grad-Wende“!

Wieso machten so viele mit, wieso gab es so viele Mitläufer?

Die Gegner der Nazis waren als „Störer und Unruhestifter“ identifiziert und inhaftiert. Die bewusst provozierten Unruhen, Demonstrationen und Schlägereien der letzten Jahre und Monate der Weimarer Republik hörten eben SCHLAG-artig !! auf, als die braun und schwarz uniformierten Schläger nun im offiziellen „Auftrag des Führers“ die perfiden Ideen von Deutscher Ordnung mit Hass und Gewalt brutal durchsetzten. Sadismus wirkte in der SS als Karriere-Beschleuniger!

Heilserwartungen wurden geschürt und viele hofften wirklich, wenn nun diese neue Ordnung käme, würden alle Probleme gelöst. Da dringt der deutsche Überlegenheitswahn wieder durch! Allmachtsphantasien und Führerkult enthoben jeden seiner Verantwortung: es reichte, einfach nur mitzumachen! Doch bei den Zweifelnden verfehlten die brutalen Angriffe gegen die politischen Gegner nicht ihre Wirkung, sie schüchterten ein: Besser man fiel nicht auf und schwieg und wurde schweigsam!

Es gab eine weitere raffinierte Strategie, um Widerspruch und Aufbegehren zu immunisieren: Das Nazi-Regime machte Nachbarn zu Komplizen, indem es duldete – nein, indem es ermutigte – sich mit kleineren oder größeren Raubzügen am Hausstand und Vermögen der inhaftierten, vertriebenen und deportierten Nachbarn zu bereichern.

Versorgungsengpässe und Warenknappheit, durch die Kriegswirtschaft verursacht, konnten auf diese Weise kaschiert werden. Das ging aber nur, weil man glauben machen konnte und auch glauben wollte, die Nachbarn wären in ein eigenes neues Land im Osten – oder wo auch immer – umgesiedelt!

Und so machten sich die Ahnungslosen ahnungslos!

Jede einzelne der Stufen dieses „Abstiegs hinunter in das Terrorregime“ würde einen ganzen Workshop füllen und gehört in den Arbeitsplan einer „Werkstatt für Demokratie“:

Was müssen wir lernen und was müssen wir tun, um einen neuen Faschismus zu vermeiden?

Als uns Ende der Nuller-Jahre die Bankenrettung als „alternativlos“ vorgestellt wurde, erstickte das jeden weiteren politischen Diskurs und bescherte uns letztlich eine äußerst „Bösartige Alternative“ für Deutschland, … mit der wir nun fertig werden müssen!

 

Es gibt allerdings auch gute Alternativen!

Die Bedingungen für eine „Glückliche Gesellschaft, also eine Gesellschaft mit glücklichen Bürgern“ sind längst erforscht. Es sind 5 Kriterien:

  1. Ein gutes durchlässiges Bildungssystem
  2. Eine große stabile Mittelschicht, also wenige Arme und noch weniger Reiche
  3. Ein wirksam absicherndes Wohlfahrtssystem
  4. Eine gut ausgebaute funktionierende Infrastruktur
  5. Hohe gesellschaftliche Transparenz und geringe Korruption

Lasst uns diese 5 Kriterien in politische Forderungen übersetzen!

 

Wenn sich jemand wirklich für uns Menschen einsetzen will, dann können wir seine Vorschläge daraufhin überprüfen: Stärken sie die Menschenwürde oder stärken sie den Profit?

Lasst uns Lernorte des politischen Dialogs errichten! Lasst uns „Demokratie-Werkstätten“ einrichten!

Vielleicht kann uns dabei das Zitat von Martin Niemöller helfen:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war auch kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte“.

Heute könnte das Zitat in etwa so lauten:

„Als sie die Journalisten drangsalierten, dachten wir: das geht jetzt aber zu weit!

Als sie die Asylantenheime anzündeten, haben wir empört geschwiegen!

Als sie die Migranten jagten, stritten wir über den Begriff „Hetzjagd“.

Als sie die Politiker anpöbelten, sagten wir, vielleicht gehört das ja zum Berufsrisiko!

Als sie uns bedrohten, hatten wir uns beinahe schon dran gewöhnt!“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld!

Danke!